Von Susanne Ehrlich
Eine Aufführung der Superlative erlebte das Premieren-Publikum der Domfestspiele 2022 mit dem monumentalen Drama "Die rebellische Hexe" von Autor und Regisseur Hans König. Das ästhetische Gesamtkunstwerk über eine grausame Episode der Verdener Stadtgeschichte begeisterte mit atmosphärischer Dichte, großartiger Schauspielleistung und faszinierender Spielfreude. Das Publikum fühlte sich vom ersten Moment an mitgerissen.
Das Stück handelt im Jahr 1616 zu einer Zeit, in der der "Hexenhammer" des Theologen und Inquisitors Heinrich Kramer als Bestseller weit vor der Bibel lag. Vor einer mehrdimensionalen Stadtkulisse entfaltet sich auf drei Spielebenen ein lebender Bilderbogen mit schönen Kostümen, authentischen Requisiten und einer Ausdruckskraft, die aus gemeinsamer Leidenschaft erwächst.
Der Jesuit und Aufklärer Friedrich Spee (Nils Thönessen) durchschreitet in einem großartigen Prolog das fröhliche Gewusel eines geschäftigen Vormittags, an dem alle Bürger auf den Beinen sind. Er folgt dem brutalen Inquisitor Jan von Mödder (Jörg Outzen) und seinen Schergen, die auch in Verden Station machen, und warnt die Bürger vor den Folgen des Hexenwahns.
Die Dramatik steigt
In der Süderstadt lebt die schöne und kluge 15-jährige Handwerkertochter Margarethe Sievers (alternierend von Joelie Effenberger und Inga Müller gespielt). Sie leidet unter epileptischen Anfällen; zugleich hat sie sich mit einem Großbürgersohn eingelassen und wurde prompt von ihm schwanger. Ihr Vater, der Steinmetz Hans Sievers, liebt seine Tochter über alles, steht aber unter dem unguten Einfluss seiner überehrgeizigen und kalten zweiten Ehefrau Gerda (Hiltrud Stampa-Wrigge), der die Stieftochter seit jeher ein Dorn im Auge ist.In der Premierenvorstellung hat Joelie Effenberger die Margarethe Sievers mit grandioser Balance zwischen kindlicher Unschuld, weiblicher Raffinesse und innerer Stärke gespielt.
Bernd Maas spielt den Mann aus dem Volk zugleich mit tiefgründiger Lebensphilosophie und geradezu verstörender Zerrissenheit und Trauer. Als Sievers feststellen muss, dass sein Kind Schande über sich gebracht hat, lässt er sich von Gerda überreden, sie zur Engelmacherin zu schaffen. Als das Mädchen während des Aborts einen schweren Anfall erleidet, wird die halbe Stadt Zeuge, wie Gerda es als Hexe bezichtigt. Nun nehmen die Dinge ihren Lauf; natürlich muss Margarethe – in der Premiere von Joelie Effenberger mit grandioser Balance zwischen kindlicher Unschuld, weiblicher Raffinesse und innerer Stärke gespielt – auf die Folter. Dabei "besagt" sie vier weitere Verdenerinnen, und nun steigert sich die Dramatik von Augenblick zu Augenblick.
Der lebenslustige protestantische Bischof Sigismund (Jens Kramer) zieht die Grenze zwischen Genuss und Sünde nicht allzu scharf. Er lebt mit zwei Mätressen und einem kleinen Bischofssprössling sehr behaglich und sieht den Fanatismus von Inquisitor Jan von Mödder mit großer Skepsis. Ganz anders der Domprediger Eckbert, der mit seiner dahinsiechenden, aber omnipräsenten Mutter in fragwürdiger Schicksalsgemeinschaft lebt, sich für seine ausufernden sexuellen Fantasien mit verbissenem Masochismus geißelt und sein sündiges Begehren mit sadistischer Brutalität an den verhassten Weibern ausagiert.
Unberechenbarer Psychopath
Die stumme Rolle des unberechenbaren Psychopathen, deren Schwerpunkt in ihrem virtuos geführten Mienenspiel liegt, meistert Uwe Pekau mit derartiger Glaubwürdigkeit, dass man sich zugleich vor ihm und um ihn ängstigen muss. Einen Höhepunkt liefert seine Traumfantasie vom lasziven Tanz all jener verführerischen Verdener Weiber, die er so sehr begehrt. Das Eintreten der leidenden, gestrengen Mutter unterbricht die schwüle Glückseligkeit.
Die vielschichtige, in tausend Facetten ausgeschliffene Handlung ist Gesellschaftsbild einer abergläubischen Epoche und Psychodrama einer komplizierten Familienkonstellation, sie erzählt von Ausgrenzung, Zivilcourage und dem ersten Aufleuchten weiblicher Selbstbehauptung. Die Verdener Stadtgemeinschaft ist tief gespalten. Auch Richter Brendel (Jürgen Puls) und Bürgermeister Ordunus (Björn Emigholz) haben unter dem destruktiven Einfluss von Mödders das Gespür für das rechte Handeln verloren. Doch die Bürger Verdens, allen voran die Frauen, zeigen sich im Lauf des grausigen Geschehens immer mehr bereit, ein zweites Mal nachzudenken, Mitgefühl für die Opfer zu entwickeln und schließlich die aberwitzige Logik des Hexenbeweises Stück für Stück als Lüge zu entlarven.
Stimmung und Dramatik des Stückes werden unterstrichen durch eine meisterhaft durchkomponierte Bühnenmusik, die ebenso wie die bunten und ausdrucksstarken Choreografien der großen Volksszenen von Hans König stammt. Durch sie und die Chorgesänge des Volkes wird das Publikum immer wieder mitten ins Geschehen gezogen. Mit einer aus der runden Luke im Giebel des Bischofshauses gesungenen Renaissance-Arie erschafft Christiane Artisi Momente überirdischer Schönheit und eine Ahnung davon, dass das Gute über die bösen Geister zu siegen vermag.